Die Fähigkeit des Ohres, sich in bezug auf Schallwellen räumlich zu orientieren, d. h. aufgrund der wahrgenommenen Schallwellen ohne Unterstützung durch das Sehen eine Lokalisierung der Schallquellen vorzunehmen, ist für eine elektroakustische Stereoübertragung von besonderer Bedeutung.
Will man eine hochwertige Stereowiedergebe über Lautsprecher erreichen, dann muß man die Gesetzmäßigkeiten beachten, die beim natürlichen räumlichen Hören gelten.

Die räumliche Orientierung läßt sich auf drei Hauptbereiche beziehen: vorn-hinten, links-rechts, nah-fern (gelegentlich rechnet man noch einen vierten Bereich hinzu: oben-unten). Man faßt alle Bereiche meist unter dem Begriff des Richtungshörens zusammen.

Im Prinzip kommt das Richtungshören dadurch zustande, daß das Schallfeld mit den beiden Ohren an zwei verschiedenen Stellen abgehört wird. Aus den zwei verschiedenen Klangbildern wird dem Gehirn der Richtungseindruck vermittelt.
Für das Entstehen des Richtungseindrucks im Gehör gibt es verschiedene Theorien. Daß es sich dabei nur um Theorien handeln kann, leuchtet ein, wenn man bedenkt, daß die Funktionen des menschlichen Geistes kaum schematisiert werden können.

Intensitätstheorie (eigentlich Pegeldifferenztheorie)

Dreht man den Kopf seitlich zu einer Schallquelle, dann ergibt sich für die Kopfseite, die der Schallquelle zugewandt ist, eine Stauwirkung. Die andere Seite des Kopfes wirkt dagegen abschirmend. Für die beiden Ohren ergibt sich demzufolge ein Schalldruckpegelunterschied, der zur Lokalistation (Richtungsorientierung) ausgewertet werden kann. Nun ist aber der Pegelunterschied für sinusförmige Schallwellen bei tiefen Frequenzen sehr klein, bei hohen Frequenzen jedoch groß. Bei Sprache und Musik müßten die Ohren demnach laufend eine Mittelwertbildung vornehmen, woraus dann die Lokalisation folgen würde. Eine Lokalisation, die nur auf dem Schallpegelunterschied beruhen würde, wäre nicht sehr scharf.

Klangfarbentheorie

Sie ist verwandt mit der sogenannten "Intensitätstheorie", wobei aber die bekannte Tatsache berücksichtigt wird, daß die Schattenwirkung des Kopfes eine Veränderung der Klangfarbe hervorruft. Aufgrund der Klangfarbenunterschiede könnte das Ohr eine Richtungsbestimmung vornehmen.
Der Lokalisationsvorgang wäre dabei aber von besonderer Art; während nach der Pegeldifferenztheorie die Ortung ohne wesentliche Beteiligung des Gehirns möglich wäre (physiologischer Effekt), kann die Lokalisation nach der Klangfarbentheorie nur mit Beteiligung des Gehirns erfolgen (psychologischer Effekt), weil aus der Erfahrung und der Erinnerung Vergleiche herangezogen werden müßten.

Phasentheorie

Hierbei berücksichtigt man, daß bei seitlicher Kopfstellung zur Schallquelle die Schallwellen wegen der Wegunterschiede zu den Ohren mit unterschiedlichen Augenblickswerten der Schalldrücke an den beiden Ohren eintreffen. Ein solcher Gangunterschied wird als Phasendifferenz bezeichnet. Diese Theorie allein ist aber bei näherer Betrachtung kaum für das Richtungshören zutreffend. Dafür gibt es folgende Gründe: Einmal treten eindeutige Phasenunterschiede nur bei Sinustönen gleicher Frequenz auf. Zum anderen sind die Phasenunterschiede frequenzabhängig, d. h. sie werden mit zunehmender Frequenz größer. Das müßte sich dann aber so auswirken, daß bei einem in der Frequenz ansteigenden Ton sich für das Gehör laufend die Richtung ändern würde, was mit der wirklichen Wahrnehmung nicht übereinstimmt.
Schließlich würde bei hohen Frequenzen, bei denen der Phasenunterschied größer als 180° ist, ein eindeutiges Richtungshören unmöglich sein, da das Gehör nicht feststellen kann, welche der beiden empfangenen Schallwellen einen Phasenvorsprung und welche einen Phasenrückstand hat.

Zeittheorie

Diese ist verwandt mit der Phasentheorie, wobei man aber den Gangunterschied für ein Frequenzgemisch in Betracht zieht. Bei einem Schall, der mehrere verschiedene Frequenzen enthält, wie es praktisch immer der Fall ist, kann man nämlich nicht mehr von Phasendifferenzen sprechen.
Man spricht dann besser von einem Zeitunterschied der beiden Klangfolgen, der bei seitlicher Kopfhaltung zur Schallquelle an den Ohren feststellbar ist. Messungen haben bestätigt, daß das Gehör Zeitdifferenzen noch in der Größenordnung von 1/300 ms wahrnehmen kann.

Kombinationstheorie

Betrachtet man die verschiedenen Theorien der vorigen Abschnitte, dann ergibt sich die Wahrscheinlichkeit, daß das Gehör die Richtungsorientierung aus mehreren Komponenten bezieht. So treten z. B. bei Musikklängen Pegel- und Zeitdifferenzen praktisch immer gleichzeitig auf. Es ist wahrscheinlich, daß das Gehör den besten Stereoeindruck gewinnt, wenn beide Komponenten, die die beiden Ohren vermitteln, zueinander passen. Erhärtet wird diese Theorie durch Versuchsergebnisse, die man auf elektrischem Wege mit Hilfe von Lautsprechern gewonnen hat.
Stellt man z. B. zwei Lautsprecher im Abstand von einigen Metern so auf, wie es bei einer Stereoübertragung üblich ist, dann kann man bei einer Testperson durch zwei genau übereinstimmende Klangübertragungen aus beiden Lautsprechern den Eindruck gewinnen, daß die Schallquelle in der Mitte zwischen den Lautsprechern geortet wird. Verändert man nun die Zeitdifferenz der beiden Klangübertragungen, dann scheint die Schallquelle für die Testperson zur Seite auszuwandern.

Den gleichen Effekt erreicht man aber auch, wenn man statt der Zeitdifferenz einen Intensitätsunterschied einstellt. Zahlenmäßig hat sich hierbei ergeben, daß je nach Klangzusammensetzung z. B. ein Zeitunterschied von 1 ms durch einen Intensitätsunterschied von 5 bis 12 dB ersetzt werden kann.

Präzedenzeffekt

Dieser auch mit Haaseffekt bezeichnete Einfluß auf die Richtungsempfindlichkeit ist eine weitere Eigenschaft des Gehörs.
Das Gehör ortet nämlich eine Schallquelle immer nach der Richtung, aus der die erste Schallfront ankommt. Wird zum Beispiel in einem Vortragssaal zur Verständlichkeitserhöhung eine Lautsprecherübertragung vorgenommen, dann hört man den Schall aus dem Lautsprecher, der einem am nächsten ist. Das kann möglicherweise ein Lautsprecher sein, der an der Wandseite des Raumes liegt und mit der Richtung zum Sprecher nicht übereinstimmt.
Das kann die Aufmerksamkeit des Hörers sehr stören. In solchen Fällen verzögert man elektronisch die zu verstärkende Mikrofonspannung, so daß der verstärkte Schall gegenüber dem direkten Schall verspätet zum Hörer gelangt. Der Hörer bezieht den Schalleindruck auf den Sprecher selbst, und der verzögert ankommende Schall erhöht nur die Lautstärke und damit die Verständlichkeit. Dieser Effekt ist wirksam, solange die Verzögerung nicht länger als 20 ms dauert.
Interessant ist außerdem, daß die Ortung auf die erste Schallfront auch noch erhalten bleibt, wenn der verstärkte Schall wesentlich lauter ist als der Originalschall des Sprechers. Der Haas-Effekt spielt auch bei der stereophonischen Ubertragung in Wohnräumen eine Rolle, wo Schallanteile das Ohr sowohl auf direktem als auch auf indirektem Wege - über Reflexionen - erreichen.
Hierdurch erklärt sich die Erscheinung, daß man auch in einem halligen Raum trotz vieler Reflexionen eine gute Ortungsmöglichkeit hat.

Enveloppenhören

Während sich die Theorien und Effekte der vorhergehenden Kapitel auf das Richtungshören der Rechts-Links-Orientierung beziehen, ergibt sich die Orientierung nach nah bzw. fern aus der Eigenschaft des Gehörs, die Hüllkurve oder Enveloppe eines Klanges zu bewerten.
Diese Hüllkurve ist von der Phasenlage der Frequenzen zueinander abhängig, wie in Abbildung an einem Beispiel erläutert wird.

 

 

In der Abbildung ist eine Frequenz 1 mit einer anderen Frequenz 2 durch Addition der Amplituden überlagert.
Hieraus ergibt sich eine Summen- oder Hüllkurve 3 von besonderer Gestalt. Verändert man die Phasenlage der Frequenz 2 z. B. um 180°, dann entsteht eine Enveloppe von anderer Gestalt, wie rechts in der Abbildung zu erkennen ist. Insbesondere unterscheiden sich die Enveloppen durch die jeweilige Steilheit der Schallfront.
Untersuchungen haben dabei ergeben, daß das sogenannte "Ohmsche Gesetz der Akustik" nur bedingt richtig ist. Ohm hatte seinerzeit aufgrund seiner Versuche angenommen, daß das Gehör beim Hören eines Klanggemisches eine Zerlegung in die einzelnen Teiltöne vornimmt und auf diese Weise den Höreindruck dem Gehirn vermittelt. Er war der Ansicht, daß dabei die Phasenlage der Teiltöne zueinander keine Rolle spielt. In Wirklichkeit wird jedoch vom Gehör - insbesondere bei tiefen Frequenzen, bei denen große Amplituden auftreten - die Enveloppe des Gesamtschalls ausgewertet.

Das Enveloppenhören vermittelt interessante Höreffekte.
So gibt z. B. die Orgel des Stiftes St. Florian bei Linz als tiefsten Pfeifenton 12.5 Hz ab. Die Töne in diesem Bereich sind, für sich allein gespielt, nicht hörbar, da sie unter der unteren Hörgrenze liegen. Im Zusammenspiel mit anderen Tönen jedoch tragen sie sehr dazu bei, eine kräftige und plastische sowie besonders räumlich nahe Klangwirkung zu erzeugen.
(Siehe E. Skudrzyk: Grundlagen der Akustik, Springer-Verlag 1954, Seite 624).

Besonders wichtig ist das Hören der Enveloppe bei kurzzeitigen Schallvorgängen, wie sie bei Ein- und Ausschwingvorgängen auftreten. Dies spielt eine wichtige Rolle bei hochwertiger Lautsprecherwiedergabe.


Dank an Eberhard Sengpiel (http://www.sengpielaudio.com) für Hinweise und Ergänzungen.